in Theben, Böotien
Zu allem dem sandte er zwei Boten an den blinden Seher Tiresias, der an Einsicht und Blick ins Verborgene fast dem wahrsagenden Apollo selber gleich kam. Dieser erschien auch bald von der Hand eines leitenden Knaben geführt vor dem Könige und in der Volksversammlung. Ödipus trug ihm die Sorge vor, die ihn und das ganze Land quäle. Er bat ihn, seine Seherkunst anzuwenden, um ihnen auf die Spur des Mordes zu verhelfen.
Aber Tiresias brach in einen Wehruf aus, und sprach, indem er seine Hände abwehrend gegen den König ausstreckte: “Entsetzlich ist das Wissen, das dem Wissenden nur Unheil bringt! Laß mich heimkehren, König; trage du das deine, und laß mich das meine tragen!“ Ödipus drang jetzt um so mehr in den Seher, und das Volk, das ihn umringte, warf sich flehend vor ihm auf die Knie! Als er aber auch so keine weiteren Aufschlüsse geben zu wollen bereit war, da entbrannte der Jähzorn des Königs Ödipus, und er schalt den Tiresias als Mitwisser oder gar Fausthelfer bei der Ermordung des Laius. Ja, wenn er nur sehend wäre, so traute er ihm allein die Untat zu. Diese Beschuldigung löste dem blinden Propheten die Zunge. “Ödipus,” sprach er, ” gehorche deiner eigenen Verkündigung. Rede mich nicht, rede Keinen aus dem Volke fürder an. Denn du selbst bist der Greuel, der diese Stadt besudelt! Ja, du bist der Königsmörder, du bist derjenige, der mit den Teuersten in fluchwürdigem Verhältnisse lebt.”
Schwab Erster Teil / Fünftes Buch / Kapitel 3 / Absatz 2 + 3