Oedipus tötet Laios

bei Daulia, Böotien

Von Delphi aufbrechend, schlug er den Weg nach Böotien ein. Er befand sich noch auf der Straße zwischen Delphi und der Stadt Daulia, als er, an einen Kreuzweg gelangt, einen Wagen sich entgegenkommen sah, auf dem ein ihm unbekannter alter Mann mit einem Herolde, einem Wagenlenker und zwei Dienern saß. Der Rosslenker, zusamt dem Alten, trieb den Fußgänger, der ihnen in den schmalen Pfad gekommen war, ungestüm aus dem Wege. Ödipus, von Natur jähzornig, versetzte dem trotzigen Wagenführer einen Schlag. Der Greis aber, wie er den Jüngling so keck auf den Wagen anschreiten sah, zielte scharf mit seinem doppelten Stachelstabe, den er zur Hand hatte, und versetzte ihm einen schweren Streiche auf den Scheitel. Jetzt war Ödipus außer sich gebracht: zum erstenmal bediente er sich der Heldenstärke, die ihm die Götter verliehen hatten, erhob seinen Reisestock und stieß den Alten, daß er sich schnell rücklings vom Wagensitze herabwälzte. Ein Handgemenge entstand; Ödipus mußte sich gegen ihrer Drei seines Lebens erwehren; aber seine Jugendstärke siegte, er erschlug sie alle, bis auf Einen, der entrann, und zog davon.

Ihm kam keine Ahnung in seine Seele, daß er etwas Anderes getan, als aus Notwehr sich an einem gemeinen Phocier oder Böotier mit seinen Knechten, die ihm samt demselben ans Leben wollten, gerächt habe. Denn der Greis, der ihm begegnet, trug kein Zeichen höherer Würde an sich. Aber der Gemordete war Laius, König von Theben, der Vater des Mörders gewesen, der auf einer Reise nach dem pythischen Orakel begriffen war; und also war die gedoppelte Weissagung, die Vater und Sohn erhalten, und der sie beide entgehen wollten, an beiden vom Geschick erfüllt worden. Ein Mann aus Platäa, mit Namen Damasippus, fand die Leichen der Erschlagenen am Kreuzwege liegen, erbarmte sich ihrer, und begrub sie. Ihr Denkmal aus angehäuften Steinen mitten im Kreuzwege sah nach vielen hundert Jahren noch der Wanderer.

Schwab Erster Teil / Fünftes Buch / Kapitel 1 / Absatz 2+3