Mythos und Gewalt

Die antiken Mythen erzählen von Gewalt – von individuellen Übergriffen, von generationsübergreifenden Rachekreisläufen, von völkervernichtenden Kriegen. Sind die Gewalterzählungen der Grund, weshalb die antiken Mythen uns faszinieren? Ich denke, es sind vielmehr die Indizien am Rande: die Hinweise auf die Mechanismen von Eskalation – und andersherum die Hinweise darauf, warum Versuche der Deeskalation scheitern. Denn es gibt sie auch in den antiken Mythen: die Versuche, den Krieg zu verhindern, dem Krieg zu entkommen. Man muss allerdings etwas genauer hinschauen, um diese Aspekte in den Überlieferungen zu entdecken. Sie werden deutlich seltener rezipiert als die heroischen Geschichten. Dennoch: der Kluge will leben (Amphiaraos), die Mutter will ihr Kind schützen (Thetis), der Listige will bei seiner Familie bleiben (Odysseus).

Dass diese Versuche der Deeskalation in den Geschichten keinen Erfolg haben, ist deprimierend. Dass sie dennoch bis in unsere Zeit immer wieder aufs neue erzählt wurden, lässt hoffen. Dass es womöglich Erzählungen von erfolgreichen Versuchen gab, die nicht weitergetragen wurden, kann man vermuten. Denn eine abgewendete Eskalation hat keinen Nachrichtenwert – im langfristigen Prozess der Verdichtung mythischer Erzählungen vermutlich ebenso wie im Newsroom der Gegenwart. Vielleicht ist deshalb die Gewalt so allgegenwärtig in den Mythen? Umso spannender finde ich, nach den weniger präsenten Aspekten zu suchen.

Halsband und Gewand der Harmonia

Vorgeschichte

Hephaistos grollt seiner Frau Aphrodite wegen des Ehebruchs mit Ares und schenkt dem Kind aus dieser Vebindung, Harmonia, zur Hochzeit ein verfluchtes Halsband und ein Gewand. Die Gaben verleihen ewige Jugend und werden deshalb von den Frauen in Theben geschätzt und über Generationen weitergereicht (sie wären sicher auch heutzutage heiß begehrt). Aber sie bringen allen, die sie besitzen, großes Unglück, u. a. Semele, der Tochter von Harmonia, oder Iokaste, der Frau von Harmonias Urenkel Laios. Der Streit zwischen Iokastes Söhnen führt schließlich zum Konflikt zwischen Argos und Theben.

Sieben gegen Theben

Doch in Argos spricht sich Amphiaraos gegen einen Theben-Feldzug aus. Amphiaraos ist ein Seher. Er weiß, dass nur einer der sieben Feldherren den geplanten Feldzug überleben wird. Er wird es nicht sein.

Wir wissen wenig über die Gründe, warum der Groll des Polyneikes zu einem Krieg führt. Sechs weitere Feldherren waren bereit, ihr Leben und das ihrer Gefolgsleute aufs Spiel zu setzen. Wie entstand dieses Bündnis? Was versprachen sich die Teilnehmer von dem Feldzug? Der Mythos erzählt vom Bruderzwist der Oedipus-Söhne um die Herrschaft in Theben. Und vom Willen des Schwiegervaters von Polyneikes (Adrastos in Argos), seinen Schwiegersöhnen zu ihrem Recht zu verhelfen (zwei Töchter, zwei Reiche: Theben und Kalydon). Der zweite Feldzug fiel dann aus (Spoilerwarnung), weil schon alle tot waren.

Amphiaraos also, der Schwager des Adrastos, hat zumindest keine Ambition, sich töten zu lassen. Er verweigert seine Teilnahme oder versteckt sich sogar – je nach Quelle. Da kommt ein magisches Objekt ins Spiel, mit dem Polyneikes die Frau des Amphiaraos besticht. Polyneikes hatte bei seiner Flucht aus Theben die seit Generationen weitergereichten Hochzeitsgeschenke der Harmonia mit sich genommen und vorerst seiner Frau Argeia vermacht. Die verzichtet in der Hoffnung, ihren Mann vor dem Tod zu bewahren. Und so bietet Polyneikes nun das erste Stück des Bundles Eriphyle an – der Frau des Mannes, den er für seinen Feldzug braucht, der aber nicht will. Eriphyle nimmt gegen alle Warnungen das Halsband als Geschenk an und verspricht im Gegenzug, Amphiaraos zur Teilnahme zu bewegen. Da gibts dann noch beziehungstechnische Besonderheiten – entweder verrät sie sein Versteck oder ihr Mann hat irgendwann geschworen, seine Frau entscheiden zu lassen – und schon ist die Diskussion beendet.

Der Seher weiß, dass er nicht zurückkehren wird. Er verflucht seine bestechliche Frau. Er fordert von seinen beiden minderjährigen Söhnen, Rache zu üben an der Mutter und an Theben. Er gibt damit dem Rad der Gewalt, das er gerade noch anhalten wollte, so richtig Schwung.

Am Ende sind sechs von sieben Angreifern tot. Die beiden Haupt-Kontrahenten Eteokles und Polyneikes haben sich im Zweikampf gegenseitig ausgelöscht. Hier schließt sich die Geschichte der Antigone an, die beiden Brüdern das gleiche Recht auf Bestattung einräumt.

Epigonen gegen Theben

Zehn Jahre sind vergangen, die Söhne der Gefallenen sind erwachsen geworden und rufen nach Vergeltung für die Niederlage der Väter. Ausgerechnet Alkmaion, Sohn des Amphiaraos, der ohnehin noch den Racheauftrag seines Vaters offen hat, soll die Neuauflage des Feldzugs anführen. Er will aber nicht!

Dumm gelaufen, dass das zweite magische Stück aus Harmonias Schatz, das Gewand, zum Sohn von Polyneikes, Thersandros, gewandert ist. Der zögert nicht, es Eriphyle schmackhaft zu machen – anscheinend reicht die Halsband-Magie nach zehn Jahren nicht mehr aus – Eriphyle greift erneut zu, komplettiert den Magic Look und verdonnert nun auch noch ihren Sohn zum Krieg.

Alkmaion schlägt die Schlacht, kehrt zurück, erfährt von der Bestechung seiner Mutter und vollstreckt auch den zweiten Teil des Racheauftrags seines Vaters. Er tötet seine Mutter und wird fortan von Erinnyen verfolgt.

Die Suche nach Erlösung von seiner Schuld treibt ihn durch halb Griechenland (das magische Outfit nimmt er mit). Er heiratet, wird weiter getrieben, befragt das Orakel, heiratet erneut und bekommt zwei Söhne. Halsband und Gewand sind zur ersten Frau gewandert, Arsinoe in Psophis. Irgendwann bekommt die zweite Frau, Kallirrhoe in Epeiros, Appetit und findet, dass die magischen Geschenke nun ihr zustehen. Alkmaion widerstrebt es, die verfluchten Gaben zu erstreiten. Doch er fühlt sich in der Pflicht, weil er durch seinen aktuellen Schwiegervater, den Flussgott Acheloos, endlich Erlösung von den Rachegöttinen gefunden hat. Und er zieht erneut los.

Alkmaion versucht es mit einer List: Unter dem Vorwand, zur Unterstützung seiner Heilung die kostbaren Stücke als Weihegeschenke nach Delphi bringen zu wollen, erbittet er im Haus seiner ersten Frau in Psophis deren Herausgabe. Schon ist König Phegeus (Alkmaions Ex-Schwiegervater) dazu bereit – da wird die List entlarvt und die neue Frau als Drahtzieherin offenbart.

Waren Halsband und Gewand bisher indirekte „Katalysatoren“ in schwelenden Konflikten, so werden sie nun zum direkten Anlass von Gewalt. Phegeus sendet seine Söhne aus, um die Kostbarkeiten zurückzuholen. Die Söhne töten Alkmaion und unterstellen den Mord ihrer Schwester Arsinoe – sie hatte sich für ihren Ex-Mann eingesetzt und wird nun als Sklavin verkauft.

Die zweite Frau will Rache für den Tod Alkmaions und findet dafür einflussreiche Unterstützung: Zeus höchstselbst lässt auf ihren Wunsch hin die beiden kleinen Söhne von Kallirrhoe und Alkmaion schlagartig erwachsen werden, damit sie den Racheauftrag ihrer Mutter umgehend in Angriff nehmen können. Amphoteros und Akarnan ziehen also nach Arkadien, erbeuten die Objekte der Begierde und töten die Mörder ihres Vaters, deren Familien und weitere Beteiligte.

Auf Rat ihres Großvaters Acheloos landen Halsband und Gewand dann aber nicht bei Kallirrhoe, sondern tatsächlich als Weihegeschenke in Delphi.

Anke Tornow | März 2024


Warum ein Schlangenhaupt?

Das Mythoskop-Projekt wird von einem schlangenköpfigen Glücksbringer, einem Gorgoneion, begleitet. Es stellt das abgeschlagene Haupt der Gorgo Medusa dar, deren Blick über den Tod hinaus magische Kräfte haben soll. Wir haben uns für dieses Apotropaion („Unheil abwendend“) entschieden, weil es ein faszinierendes Beispiel für die Ambivalenz antiker Mythenmotive ist.

Unsere Interpretation des Gorgonenhauptes schließt an eine Tradition an, die durch zahlreiche Zeugnisse (Reliefs, Münzen, Schmuck, Vasen, Mosaike, …) belegt ist. Vermutet wird eine frühe rituelle Verwendung von Gorgo-Masken zur Abschreckung Nichteingeweihter im Zusammenhang mit Mysterienkulten. Später fand sich das Gorgoneion als Schutzzeichen an Waffen, Gebäuden und Alltagsgegenständen. Der Charakter der Medusenhäupter hat sich über die Zeit stark verändert – von fratzenhaften Bestien hin zu schaurigen Schönheiten.

Die Geschichte der Medusa wird meist erzählt im Zusammenhang mit den Abenteuern des Perseus – dann ist es die Geschichte des Sieges eines Helden über ein Ungeheuer. Seltener kann man etwas über die Vorgeschichte der Medusa erfahren: eine außergewöhnlich schöne Frau, die den Zorn der Athene auf sich zog und bestraft wurde. Geht es um die Rivalität zwischen einer Göttin und einer Sterblichen? Oder kann das abschreckende Äußere als Schutzmaßnahme gegen Übergriffe gedeutet werden?

Hier folgt eine kleine Auswahl von eingekürzten Informationen zu Überlieferungen des Mythos sowie zum Brauch des Gorgoneion.
 

Apollodoros Bibliotheke
(vermutlich 1. Jahrhundert n. Chr.)

Die Gorgonen hatten Häupter, mit Drachenschuppen übersäet, große Sauzähne wie Schweine, eherne Hände und goldne Flügel, mit welchen sie flogen. Jeden, der sie sah, den wandelten sie in Stein. Perseus stand nun bei den Schlafenden, und mit abgewandtem Angesicht, den Blick gegen seinen ehernen Schild gerichtet, in welchem er das Bild der Gorgo sah, schnitt er ihr, indem Athene ihm die Hand führte, das Haupt ab. 

Perseus schob nun das Haupt der Medusa in seinen Schubsack, und entfernte sich wiederum rücklings. 

Er hielt dem Könige und dessen zu Hülfe gerufenen Freunden abgewandten Gesichts das Gorgonenhaupt vor, wodurch Alle, die es sahen, Jeder in seiner augenblicklichen Stellung, in Stein verwandelt wurden.

Er gab das Gorgonenhaupt der Athene. Athene setzte das Haupt der Gorgo in die Mitte ihres Schildes. Einige sagen auch, Athene selbst habe der Medusa das Haupt abgeschlagen; und zwar, weil Gorgo sich mit ihr in der Schönheit hatte messen wollen. 

Gründliches mythologisches Lexikon
(Hederich 1770)

Medusa, eine von den drey Gorgonen oder Töchtern des Gorgons und der Ceto. Sie war unter ihren Schwestern allein sterblich, und dabey von einer solchen Schönheit, daß Neptun selbst sich in sie verliebete, und da er seine Händel in dem Tempel der Minerva mit ihr hatte, so verdroß solches diese Göttinn dermaßen, daß sie der Medusa schöne Haare in häßliche Schlangen verwandelte, und dabey machte, daß, wer sie ansah, sogleich in einen Stein verwandelt wurde. Indem sie aber auf diese Art sehr viele Menschen umbrachte, so schickte endlich Minerva den Perseus ab, welcher sie tödtete, ihr den Kopf abhieb, und ihn der Minerva überbrachte, die ihn denn auf ihren Schild heftete, und auch damit verschiedene ihrer Feinde in Steine verwandelte.

Ihr Kopf kömmt vielfältig auf alten Denkmaalen vor: er ist aber nicht allezeit so scheuslich, als man sich ihn wohl einbildet, sondern zuweilen überaus schön, so daß man fast kein schöner Gesicht haben würde, wenn man die Schlangen wegnähme. Es sind auch nicht alle Haare dergleichen, sondern sie nur mit solchen sparsam durchflochten. Vielmal oder meistentheils hat sie Flügel auf dem Kopfe. Oft findet man dabey fast gar keine Schlange, oder solche doch sehr versteckt. Man will auch, daß er zuweilen die Zunge herausstecke.

Der Aberglaube des Bösen Blicks bei den Alten
(Jahn 1855)

Daher fin­den wir denn überall das Gorgoneion angebracht, wo man eines Schutzes und Apotropaion bedurfte, an Mauern und Thoren, an Gebäuden aller Art, an Geräthschaften; an Allem was den Menschen persönlich umgab, Harnisch und Schild, Schmuck und Kleidung.

Hier liegt ein Gedanke zu Grunde, der alle religiösen Vorstellungen des Alterthums tief durchdringt, dass die Kraft zu segnen und zu heilen unzertrenn­lich von der zu schaden und zu vernichten ist und umgekehrt, dass daher auch in jeder Gottheit beide entgegengesetzten Sei­ten vereinigt sind. 

Im Mythus von der Gorgo tritt dieser Dualismus auffallend her­vor; wie wenn von zweien ihrer Blutstropfen der eine tödtet, der andere heilt. Und auch das Gorgoneion, indem es zum schützen­den Amulet wird, vereinigt diese entgegengesetzten Kräfte in sich.

Ausführliches Lexikon der griechischen und römischen Mythologie
(Roscher 1848-1937)

Perseus wurde fortan als Vernichter des gefährlichsten Ungeheuers gefeiert. Die furchtbaren Kräfte des Gorgonenhauptes waren nunmehr auf ihn übergegegangen: den abgeschnittenen Kopf, dessen Anblick noch femer tötete, benutzte er als wirksame Waffe gegen seine Feinde. Die Blutstropfen der Gorgo aber besassen die wunderbare Kraft zu heilen und zu vernichten.

Später wurde das Gorgonenhaupt (Gorgoneion) das regelmäßige Emblem der Aigis, des Schildes, welches die Gewittergottheiten Zeus und Athene führen; die zahlreichen Abbilder desselben aber benutzte man als Apotropaia (Schutzmittel) gegen alles Feindselige, namentlich aber gegen den bösen Blick.

Das Medusenhaupt von Blariacum
(Gaedechens 1874)

Und so konnte an einer neuen Reihe von Monumenten die bekannte Thatsache er­härtet werden, wie das Bild des Medusenhaupt als sicherstes Schutzmittel gegen bösen Blick und andern unheimlichen Zauber Gegenständen der verschiedensten Art angeheftet, dadurch aber zu einem so geläufigen Kunstmotiv wurde, das die Behauptung nicht irrig erscheinen wird: die Griechisch-Römische Kunst hat uns keinen figürlichen Schmuck so häufig überliefert wie das Medusenhaupt.

Meyers Großes Konversations-Lexikon
(1905–1909)

Gorgoneion, nach griech. Sage das von Perseus der Gorgone Medusa abgeschlagene Haupt, das Athene als versteinerndes Schreckbild in der Mitte der Ägis auf ihrem Schilde trägt; doch kommt der ursprüngliche Typus, ein en face gebildetes weibliches Fratzengesicht mit heraus gestreckter Zunge und Eberzähnen (Fig. 1), schon in der orientalischen Kunst vor. Als Unheil abwehrendes Schreckbild (Apotropäon) schmückt es Städtemauern, Waffen, Amulette etc. Die spätere Kunst formt es um zu einer im Todeskampf erstarrten, doch wunderbar schönen Frauenmaske mit von Schlangen durchzogenem Lockenhaar (Medusa Rondanini, in der Münchener Glyptothek, Fig. 2).

Das schlangenumzüngelte, die Zunge heraussteckende Gorgonenhaupt der Athener war in seinem Ursprunge nichts andres als eine besonders furchtbare Maske, der jeder Feind erlag, dem sie entgegengehalten ward.

Griechische Mythologie. Quellen und Deutung
(Ranke-Graves 1955)

Die Gorgonen, maskentragende Stellvertreterinnen der dreifaltigen Göttin, hatten glühende Augen und eine zwischen gebleckten Zähnen hervorhängende Zunge. Sie sollten Fremde von der unbefugten Teilnahme an den Mysterien abschrecken.

Quellen

Apollodoros / Moser, Christian Gottlob (Übers.): Apollodoros’s Mythologische Bibliothek, Stuttgart 1828
Hederich, Benjamin: Gründliches mythologisches Lexikon, Leipzig 1770
Jahn, Otto: Der Aberglaube des Bösen Blicks bei den Alten, Leipzig 1855
Roscher, Wilhelm Heinrich: Ausführliches Lexikon der griechischen und römischen Mythologie, Leipzig 1884-1937
Gaedechens, Rudolf: Das Medusenhaupt von Blariacum, Bonn 1874
Meyer, Hermann Julius: Meyers Großes Konversations-Lexikon, Leipzig 1907-1913
Ranke-Graves, Robert: Griechische Mythologie: Quellen und Deutung, Hamburg 1955