Hochfranken-Feuilleton


Michael Thumser | 8. März 2023

Netz im Netz

Wo die kollektive Erinnerung unserer Vorfahren an ihre Grenzen stieß, dort, wo ihre historische Schau nicht mehr weiter zurück reichte, da kamen die Mythen ins Spiel. Den Menschen kündeten sie plausibel von ersten und letzten Dingen, von Göttinnen und Göttern, Heldinnen und Heroen, die mit übermenschlichen Zielen, Gaben und Kräften den Kosmos schufen, die Natur formten, durch die Zeiten wirkten bis in eine äußerste Zukunft hinein, in der alles sein äußerstes Ende finden würde. Die Erdenwesen in ihren Beschränkungen durften sich und ihr oft genug nichtiges Kleinklein in den Großtaten der Gewaltigen wiedererkennen, weil auch die, ungeachtet ihrer Monumentalität und Transzendenz, blind akuten Leidenschaften folgten, sich in Hingabe und Hass verzehrten, liebten und logen, den Rausch und die Ranküne liebten, sich in Parteien entzweiten und, wo sie ihre Ehre beleidigt meinten, einander grausam bekämpften. Nicht, dass jemand Bestimmtes sich berufen gefühlt hätte, wie ein Autor solche Geschichten, gültig für alle seinesgleichen, zu ersinnen und in die Mit- und Nachwelt zu setzen; aus mählich sich entfaltenden Kulten, aus anonymen Ideenkernen und über Generationen sich fortzeugenden und wandelnden Motiven entstanden die Mythen, von denen etliche ein Thema angeben, das die mancherlei Kulturen der Menschheit seither in vielgestaltigen Variationen vielschichtig durchspielten und noch -spielen. Mythen reflektieren fernes Geschehen und persönliche Erfahrung im Riesenformat; was nicht hindert, sie gleichsam unters Mikroskop zu legen, um den wildwüchsig verästelten Verbindungen zwischen ihren Protagonisten und Nebendarstellern nachzuspüren. „Ob Sisyphos-Arbeit, Sirenen-Ruf, Achilles-Ferse oder Hermes-Bote –“, unterstreicht die Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, die Mythen des antiken Europa „sind heute allgegenwärtig als Metaphern, Markennamen oder etwa als Inspiration für Literatur und bildende Kunst.“ Höchst zeitgemäß zeigt sich dies im „interaktiven“ Online-Portal www.mythoskop.de, das die Multimediadesignerin Anke Tornow zusammen mit Experten der Hochschule bewundernswert detailliert erarbeitet hat. Das Netz der Mythen „im Netz“, im world wide web: Den verwirrenden, indes nur scheinbar chaotischen Kosmos der alten Narrative erschafft das (frei zugängliche) Portal im digitalen Welt-Raum aufs Raffinierteste neu. Wer sich ein wenig Zeit nimmt, mit der dynamischen, über mehrere gekoppelte Informations-Sphären und -Schichten ausgedehnten Website vertraut zu werden, dem erschließt sich der schier unerschöpfliche Fundus der Götter- und Heldentaten aus dem Mittelmeerraum inhaltlich, chronologisch, kartografisch, rezeptionsgeschichtlich bis in die frühesten Quellen der schriftlichen Überlieferung hinein und bis in die jüngste Zeit. Und auch ohne allzu starkes Interesse an jahrtausendealten Titanen und Kyklopen, Harpyen, Nereiden oder Hekatoncheiren darf man staunen angesichts eines digitalen Experiments, das über die konkret bezweckte Sisyphos-Arbeit, den Mythen-Katalog, weit hinausweist. Denn indem es komplex und spektakulär gelang, vereint es in einem für ganz unterschiedliche Einblicke tauglichen Medium die übernatürlichen Gestalten der Fiktion und die irdischen Manifestationen messbarer Wirklichkeit, das ganz große Kino überdimensionaler Sagenstoffe und ihre banalen Reflexe im Alltag unserer anthropologischen Konstanten, die zu Geist sublimierte, nach Ewigkeit strebende Menschheitserzählung und die anschauliche, zudem ästhetische Grafik auf der Höhe der Zeit.

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